Der «pH-Fetischismus» 
und seine Folgen

Mit fortschreitendem Klimawandel und der Häufung trocken-heisser Vegetationsperioden wird die Gefahr erhöhter pH-Werte heraufbeschworen und in manchen Situationen sogar zu einem realen Problem. Gängige Praxis ist, mit Weinsäure die pH-Werte zu senken. Doch was sind die Konsequenzen dieser Korrektur?


Autor_Schneider Volker
Volker Schneider
Önologe

Der pH-Wert ist eine schnell und einfach zu ermittelnde Grösse, wobei die Genauigkeit der Werte von der Kalibration der eingesetzten Elektrode abhängt. Er fällt als Nebenprodukt bei jeder potentiometrischen Titration der Gesamtsäure an. Es ist daher sinnvoll und naheliegend, ihn zusammen mit dieser auszuweisen. In Mosten und Weinen bewegt er sich im Bereich von 3.0 bis 4.0 mit seltenen Ausreissern nach oben und unten. Innerhalb dieses Bereiches weisen Teststreifen zur Ermittlung des exakten Werts auf Basis einer Farbreaktion nicht die für Most und Wein erforderliche Präzision auf.

 

Definition des pH-Werts

Säuren spalten in wässriger Lösung wie Wein Wasserstoff-Ionen (H+) ab, starke Säuren mehr als schwache. Wein enthält aber auch Basen, die Hydroxyl-Ionen (OH) abspalten und H+-Ionen binden. In jeder wässrigen Lösung liegen H+-Ionen und OH -Ionen gleichzeitig vor, wenngleich in höchst unterschiedlichen Konzentrationen. In einer sauren Lösung wie Wein dominieren die H+-Ionen. Der Säuregrad der Lösung ergibt sich aus ihrer effektiven Konzentration, gemessen in Mol. Diese führt zunächst zu unübersichtlichen Zahlenwerten.

Um diese Zahlenwerte handlicher zu gestalten, wird die Konzentration der H+-Ionen als pH-Wert ausgedrückt. Die Tabelle zeigt die bekannte pH-Skala von 0 bis 14. Je geringer der pH-Wert auf dieser Skala, desto mehr H+-Ionen liegen vor. Bei pH 7 liegen H+-Ionen und OH-Ionen in gleicher Konzentration vor; die Lösung ist neutral. Bei einem pH unter 7 ist die Lösung sauer, weil mehr H+– Ionen als OH-Ionen vorliegen.

In der Sprache der Mathematiker handelt es sich bei dem pH-Wert um den negativen dekadischen Logarithmus der H+-Ionenkonzentration, also pH = -log10 [H+]. Eine Lösung mit 0.001 mol/L H+-Ionen entspricht somit einem pH-Wert von 3.0, eine solche mit 0.0001 mol/L H+-Ionen einem pH-Wert von 4.0, usw.

Da der pH-Wert eine logarithmische Zahl ist, liegen in einem Wein mit pH 3.0 zehnmal so viel H+-Ionen vor als in einem Wein mit pH 4.0. Anders gesagt: Eine Erhöhung um 1.0, zum Beispiel innerhalb der realen Spannbreite in Weinen von 3.0 bis 4.0, entspricht einer Minderung des Säuregrads um einen Faktor von 10. Daher gewinnen auch scheinbar geringe Unterschiede im pH-Wert, etwa zwischen pH 3.1 und 3.4, eine grosse Bedeutung, denn bei pH 3.1 liegen doppelt so viel H+-Ionen vor als bei pH 3.4.

 

Die pH-Skala

 

Wie der pH-Wert die Wirkung der freien SO2 beeinflusst

Je niedriger der pH und je saurer ein Wein, desto höher ist seine mikrobiologische Stabilität. Dies gilt für alle Moste und Weine unabhängig davon, ob sie SO2 enthalten oder nicht, aber auf jeden Fall für den durch freie SO2 ausgeübten mikrobiologischen Schutz.

Die freie SO2 liegt in verschiedenen Formen vor. Eine davon ist ihr mikrobiologisch aktiver, keimhemmender Anteil. Dabei handelt es sich um jenen relativ kleinen Prozentsatz der freien SO2, der in molekularer Form als Gas gelöst vorliegt. Er ist stark vom pH-Wert abhängig und berechnet sich nach der Formel

SO2 molekular (mg /L) = freie SO2 : [1 + 10(pH – 1.81)]

Abbildung 1 zeigt diesen Zusammenhang in grafischer Form. In Abhängigkeit vom pH-Wert beträgt die molekulare SO2 nur 1 bis 5 % der freien SO2. In absoluten Zahlen entspricht dies zum Beispiel 0.8 mg / L, wenn ein Wein 40 mg / L freie SO2 und einen pH-Wert von 3.5 aufweist. Um Mikroorganismen wirkungsvoll zu unterdrücken, wird ein Gehalt an molekularer SO2 von mindestens 0.5 bis 0.8 mg / L als erforderlich erachtet. Weine mit stark erhöhten pH-Werten enthalten nur sehr wenig molekulare SO2.

 

Abb. 1: Zusammenhang zwischen Kalium und pH-Wert.

 

Auswirkungen auf die Sensorik

Als in den 1970er-Jahren die Weinindustrie in den Ländern der Neuen Welt, besonders in Kalifornien (s. Einstiegsbild), aufgebaut wurde, stand die mikrobiologische Sicherheit im Vordergrund. Deshalb wurde und wird auch noch heute dort dem pH-Wert und dessen Minderung durch Zusatz von Weinsäure eine teilweise überhöhte Bedeutung beigemessen. Vereinfacht sieht dies so aus, dass den Mosten so viel Weinsäure beigefügt wird, bis ein als sicher erachteter pH-Wert von zum Beispiel 3.3 oder 3.4 erreicht ist. Dies ist aus dem Blickwinkel eines reinen Chemikers verständlich, unter qualitativen Aspekten jedoch zweifelhaft, denn die geschmacklichen Auswirkungen bleiben dabei unberücksichtigt und müssen sich dem «richtigen» pH-Wert unterordnen. Im Zuge des interkontinentalen Praktikantenaustausches hat diese Denkweise auch im alten Europa zunehmende Verbreitung gefunden mit teilweise katastrophalen sensorischen Folgen.

 

Die Frage nach dem Kalium

Wenn Wein nur aus Säuren bestehen würde, könnte eine einfache Beziehung zwischen Säuregehalt und pH-Wert hergestellt werden. Dies wird in der Praxis oft versucht, ist jedoch kaum möglich. Wein enthält nämlich nicht nur Säuren, die den pH senken, sondern auch Basen, konkret Erdalkali-Ionen, die ihn erhöhen. Das wichtigste und zugleich stärksten Schwankungen unterliegende Erdalkali im Wein ist das Kalium. Deshalb ist der reale pH-Wert stets das Ergebnis der gegenläufigen Wirkung von Säuren und Kalium. Diese Wechselwirkung führt dazu, dass sogar ein säurearmer Wein einen niedrigen pH-Wert aufweisen kann, wenn er wenig Kalium enthält. Umgekehrt kann ein säurereicher Wein einen aussergewöhnlich hohen pH-Wert zeigen, wenn er entsprechend viel Kalium enthält.

Das Kalium wird im Boden durch Wasser mobilisiert und in der Traube eingelagert. Deshalb hängt der Kaliumgehalt im Most und Wein stark von der Niederschlagsmenge während der Reifeperiode ab. Trocken-heisse Jahrgänge mit geringer Säure führen auch zu geringer Einlagerung von Kalium in den Trauben. Deshalb müssen säurearme Weine nicht zwangsläufig einen hohen pH-Wert aufweisen. Kalium geht genauso stark in den pH-Wert ein wie die Säure. Abbildung 1 verdeutlicht diesen Zusammenhang. Die tendenziell höheren pH-Werte der Rotweine sind auch auf ihre höheren Gehalte an Kalium zurückzuführen, das während der Maischestandzeit aus den festen Traubenbestandteilen extrahiert wird.

Das alles wäre wenig wichtig, wenn dem Kalium nicht weitreichende geschmackliche Eigenschaften innewohnen würden. Diese führen zu einer Intensivierung von Parametern, die als Körper, Fülle, Öligkeit oder Vollmundigkeit beschrieben werden und mit den Effekten stark erhöhter Glyceringehalte vergleichbar sind. Zusätzlich führt es zu einer geschmacklichen Maskierung von Säure. (S. auch Schneiders Artikel «Säuren und Säuerung in Most und Wein».). Erwähnt sei nur, dass bei der Säuerung mit Weinsäure der überwiegende Anteil davon zusammen mit Kalium als Weinstein (Kaliumhydrogentartrat) ausfällt. Auf der daraus resultierenden Abreicherung von Kalium beruht die relativ starke Minderung des pH-Werts, die durch eine solche Art der Säuerung herbeigeführt wird. Zwangsläufig führt sie auch zu erheblichen Verlusten von Körper und Mundfülle. Weine mit zu wenig Kalium schmecken schlank und dünn. Dies gilt insbesondere für Rotweine.

 

Abb. 2: Molekulare, gasförmige SO2 (in % der vorhandenen freien SO2) bei 20 °C.

 

pH-Wert und freies SO2

Wie Abbildung 2 zeigt, nimmt der molekulare, als Gas gelöste Anteil der freien SO2 mit abnehmendem pH-Wert überproportional zu. Es ist ausschliesslich dieser gasförmige Anteil, der geruchlich aktiv ist und bei erhöhten Gehalten das typische Stechen der SO2 in der Nase hervorruft. So wirkt ein gegebener Gehalt an gemessener freier SO2 bei pH 3.0 geruchlich zehnmal stärker als bei pH 4.0. Deshalb ist in Weinen mit niedrigem pH-Wert, wie er manchmal durch übermässige Säuerung herbeigeführt wird, Zurückhaltung bei der Einstellung der freien SO2 vor dem Abfüllen geboten.

 

Was ist ein hoher pH-Wert?

Verfolgt man die Aufzeichnungen der pH-Werte aus den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, wird ersichtlich, dass sie damals vor dem Klimawandel nicht wesentlich niedriger als heute waren. Zwar wiesen die Weine mehr Säure auf, aber gleichzeitig und niederschlagsbedingt auch mehr Kalium, das niedrigen pH-Werten entgegenwirkte. In Sorten wie Müller-Thurgau, Weiss- und Grauburgunder oder Gutedel/Chasselas waren pH-Werte von 3.5 bis 3.6 die Regel. In Rotweinen lagen sie sogar noch höher. Niemand sprach darüber, weil der «pH-Fetischismus» aus der Neuen Welt noch nicht angekommen war. Trotzdem wurden jedes Jahr die Weine mit solchen pH-Werten kellertechnisch gemeistert. Inzwischen erleichtern leistungsfähige Filtrations- und Kühlanlagen diese Aufgabe.

Die Höhe des pH-Werts ist eine sehr relative Frage. Die Unterschiede sind gradueller Natur. Dennoch stellt sich die Frage, ab welcher Höhe ein pH-Wert als mikrobiologisch kritisch eingestuft werden muss. Am ehesten ist eine Grenze bei pH 3.6 zu ziehen, oberhalb der die mikrobiologische Gefährdung stark zunimmt. Anderseits bewegen sich viele, wenn nicht sogar die meisten der grossen Rotweine Europas in diesem oder einem noch höheren pH-Bereich. Würde man ihn durch Säuerung auf ein als sicher geltendes Niveau senken, wäre die Qualität dieser Weine rasch in Frage gestellt. Man ersieht daraus, dass ein erhöhter pH-Wert nicht unbedingt Anlass zur Panik geben muss. In der Mehrzahl der Fälle kann und muss er kellertechnisch gemeistert werden.

 

Burgenländische Rotweine sind bekannt für hohe pH-Werte, die kellertechnisch jedoch gemeistert werden.

 

Zusammenfassung

In Zeiten des Klimawandels sind die pH-Werte in säurearmen Mosten und Weinen heiss-trockener Jahrgänge nicht unbedingt höher als in früheren Jahrzehnten. Verantwortlich dafür ist das gleichzeitige Auftreten geringerer Kaliumgehalte. Eine Minderung des pH-Werts durch Säuerung mit Weinsäure hat weitreichende Konsequenzen für das Mundgefühl, weil sie das Kalium weiter abreichert. Deshalb ist sie mit äusserster Vorsicht anzugehen. Ideale pH-Werte nützen niemandem, wenn sie den Marktwert des Weins in Frage stellen.

 

Bilder: © Siffert/weinweltfoto.ch

Zur Person

Volker Schneider arbeitet seit den frühen 1980er-Jahren im Bereich Wein und Önologie. Vor seinem Ruhestand war er Inhaber einer eigenen Beratungsfirma mit angeschlossenem Labor. Im Rahmen der Serie «Schneiders önologische Betrachtungen» stellt er exklusiv für die SZOW wichtige Erkenntnisse und Ergebnisse zusammen. Bisher sind erscheinen: «Eigenschaften und Nutzen der Hefe nach der Gärung», 01/2020; «Wieviel Bentonit benötigt der Wein?», 02/2020; «Sauerstoffaufnahme in fruchtigen Weissweinen», 03/2020; «Bedeutung der Lagertemperatur bei Weissweinen»; 07/2020; «Säuren und Säuerung in Most und Wein», 08/2020; «UTA – noch eine Folge trocken-heisser Wachstumsbedingungen», 09/2020.


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